Linguistik – Was ich in meinem Studium gelernt habe (und was nicht) – Ein FAQ

Hin und wieder denke ich mir: „Hätte ich mal BWL studiert. Oder Jura. Oder irgendetwas auf Lehramt.“

Nicht, weil ich mit meinem Studium unzufrieden bin (ganz im Gegenteil) – sondern weil es sehr glückliche Menschen sind, die etwas studieren, von dem alle wissen, was das ist.

Linguistikstudierende haben diesen Vorteil eher nicht.

Ganz besonders dann nicht, wenn es sich um große Familientreffen handelt, bei denen mit allen Anwesenden gesprochen wird und jede zweite Person dich „noch kennt, als du so klein warst. Erzähl doch mal, was machst du jetzt?“

Ich stelle immer wieder fest, dass viele Leute einfach gar nicht wissen, was ein Linguistikstudium eigentlich beinhaltet, bzw. oftmals auch gar nicht davon gehört haben.

Wir sind, wie eine Kommilitonin einst so treffend betitelte, einfach ein „Orchideenfach“: Kaum bekannt und eher selten, und diejenigen, die es studieren, benötigen besonderer Pflege, sonst gehen sie ein.

Es ist auch völlig legitim, noch nie etwas über Linguistik gehört zu haben, immerhin sind wir ja wirklich eine kleine Klitsche (als ich mit meinem Master begann, waren wir nicht mal 10 Leute im ganzen Studiengang). Aber es ist ein tolles Fach, ein spannender wissenschaftlicher Zweig, und aus genau diesem Grund möchte ich euch heute, in Form eines kleinen FAQs, vorstellen, was wir Linguist*innen eigentlich so können und lernen (und was eben nicht), und mit einigen Vorurteilen und Klischees aufräumen.

Dabei blicke ich ausschließlich auf meinen eigenen Studiengang. Andere Universitäten und Programme setzen möglicherweise andere Schwerpunkte.

„Was ist eigentlich Linguistik und was genau studiert man denn da überhaupt?“

„Sprache ist unerlässlich für die Entwicklung sämtlicher kultureller Eigenschaften des Menschen. Der Versuch, das Phänomen Sprache zu verstehen, bleibt eine der wesentlichen Aufgaben der Grundlagenforschung im Bereich dessen, was uns zum Menschen macht. […] Das Phänomen der Sprache ist direkter Beobachtung nicht zugänglich. Der direkten Beobachtung zugänglich sind:

  • Produkte einer Einzelsprache: Äußerungen, Texte, Grammatikalitätsurteile
  • Effekte der Manifestation im Gehirn: neurokognitive Korrelate
  • Konsequenzen der selektiven Störung: Aphasien

[…] Aufgrund ihres Forschungsgegenstandes vereint die Linguistik die Eigenschaften verschiedener Wissenschaftstypen in sich:

  • Geisteswissenschaft
  • Humanwissenschaft
  • Naturwissenschaft

Wir analysieren Sprache systematisch auf verschiedenste Art und Weise, mit dem Ziel, mehr darüber zu erfahren, wie der Mensch funktioniert (so wie es andere Naturwissenschaften auch versuchen). Sprache ist unerlässlich für die Entwicklung.“ (Müller, 2012:11)

Linguistische Forschungsfelder sind u.a.:

Phonologie

Die Phonologie ist die Lehre über einzelne Sprachlaute, sogenannte Phoneme. Ein Phonem ist die kleinste, bedeutungsunterscheidende Einheit, z.B. /d/.

Morphologie

Die Lehre über die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten, sogenannte Morpheme, z.B. „Wasser“, „-st“, „-keit“, „du“, „fall-“, „ver-“, …

Syntax

Wie ein Satz strukturell aufgebaut ist, z.B. S(ubjekt)-O(bjekt)-V(erb) (Deutsch), SVO (Englisch) oder VSO (Irisch). Unsere berüchtigten Syntaxbäume werden von allen Linguistikstudierenden gefürchtet.

Semantik

Die Bedeutung von Wörtern.

Psycholinguistik

Wie Sprache (auf neuronaler Ebene) funktioniert. Von Gehirnscans über Reaktionszeiten, hier wird alles, was Sprache und Kognition betrifft, analysiert und untersucht.

Typologie

Wie Sprachen sich unterscheiden und was für verschiedene Mechanismen Sprachen haben, um Information zu kodieren. Statistische Auswertungen inklusive.

Linguistische Fragestellungen sind beispielsweise:

  • „Wie lernt der Mensch Sprache, und warum?“
  • „Wie wirken sich neuronale Störungen auf die Fähigkeit zur Sprachproduktion und Sprachverarbeitung aus?“
  • „Wie erklären sich Ähnlichkeiten zwischen Sprachen?“
  • „Was sind die zugrundeliegenden Formen (Morpheme/Phoneme) von sprachlichen Äußerungen?“
  • „Wie ist Sprache entstanden und wie sah möglicherweise die Protosprache einer Sprachfamilie aus?“
  • „Welche phonetischen Eigenschaften sind für Sprecher bedeutungsunterscheidend und welche nicht?“
  • „Warum ist ein Mensch in der Lage, sinnvolle Sprache zu produzieren – aber ein hochintelligenter Roboter nicht?“

„Also sowas wie Germanistik?“

Germanistik (ebenso wie andere sprachspezialisierte Studiengänge wie Anglistik, Romanistik oder Japanologie) beschäftigt sich in erster Linie mit der Phonologie, Morphologie, Syntax und Semantik (meist auch noch Pragmatik) einer einzelnen Sprache oder Sprachgruppe (oft auch noch der Literatur) und vermittelt Grundlagen und erste, tiefere Einblicke.

In der Linguistik hingegen ist nicht nur eine bestimmte Sprache/Sprachfamilie Forschungsgegenstand, sondern es wird vergleichend bzw. universal(er) gearbeitet. Zu den oben genannten Inhalten können noch Typologie, Computerlinguistik und/oder Psycholinguistik hinzukommen, je nach Schwerpunkt. Literatur spielt dabei keine oder höchstens eine untergeordnete Rolle, z.B. in Korpusanalysen. Analytisch-mathematisches Arbeiten mit Sprachmustern, Sprachentwicklungen und Sprachdatenerhebungen sind Tagesordnung. Auch Spracherwerb und Sprachstörungen werden behandelt.

„Und was macht man später damit?“

Ich fürchte, sämtliche Geisteswissenschaftsstudis müssen sich mit dieser Frage herumschlagen. Unglücklicherweise zählt Linguistik an den meisten Universitäten zu den „of Arts“, sprich den Geisteswissenschaften, obwohl mein Studium aus Physik, Bio, Psychologie und Mathematik bestand und ich mehr Statistik machen durfte, als sich mein Mathelehrer zu hoffen gewagt hätte.

Dementsprechend häufig fällt die Frage, was bitte schön ein Linguistikstudium bringen soll – neben einer universitären Laufbahn.

Es gibt tatsächlich viele Bereiche, in denen Linguist*innen gesucht werden. Lektorats- und Korrektoratsausschreibungen suchen oft Sprachwissenschaftler*innen (neben Germanist*innen). Aber auch im Marketing und der Werbebranche können wir Anstellung finden.

Auch Google stellt Linguist*innen für die Arbeit mit Google Translate ein. Generell werden dafür oft Linguist*innen gesucht.

„Aber wozu?“

Ja, wozu eigentlich?

Sagen wir es so: Sprache ist das zentrale Medium der menschlichen Kommunikation. Alles ist Sprache. Emojis sind (Bild-)Sprache. Handbewegungen sind (nonverbale) Sprache. Wir kommunizieren ständig und überall, v.a. seit dem Einzug des digitalen Zeitalters. Unser Gehirn analysiert jederzeit kleinste verbale und nonverbale Sprache, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

Sprache ist wie Schwerkraft. Sie ist eine Konstante in unserem Alltag und wir hinterfragen sie nicht einmal mehr. Ohne Sprache gäbe es keine Kultur. Und trotzdem wundern sich so viele, was an Sprache erforschenswert sein soll. Dabei ist bis heute immer noch nicht wirklich geklärt, warum wir eigentlich sprechen.

„Wie viele Sprachen sprichst du?“

Meine Standardantwort auf diese Frage ist mittlerweile: „Alle.“

Mein Studium ermöglicht es mir, Sprachen tiefgehend zu analysieren, Muster und Regelmäßigkeiten zu erkennen und sie herunterzubrechen. Dadurch muss ich eine Sprache nicht aktiv sprechen können, um mir vorliegende Texte zu übersetzen. Ich weiß vielleicht nicht, was „Taschenlampe“ auf Urdu heißt, aber dafür kann ich mir innerhalb kürzester Zeit die Grammatik des Urdu selbstständig erarbeiten.

Als Linguistin kann ich mir zwar aussuchen, viele Sprachen zu lernen, einfach weil ich Bock dazu habe – aber es ist keine Grundvorraussetzung – es sei denn natürlich, ich möchte Konversationen in meiner Wunschsprache führen.

Die einzige Sprache, die für die Linguistik wichtig ist, ist Englisch, weil so ziemlich alle wissenschaftlichen Texte auf Englisch verfasst sind, und später die eigenen wissenschaftlichen Berichte ebenfalls auf Englisch verfasst werden sollten. Und ich musste Latein vorweisen können, als ich mich für den Bachelor beworben habe, aber ich weiß nicht, ob das überall so ist …

„Du bist doch Linguistin. Was heißt dieses Wort auf Französisch?“

Ich hatte nie Französisch. Ich muss genauso im Wörterbuch nachschlagen wie du. Das gilt übrigens auch für Fragen, die die Rechtschreibung betreffen.

„Woher kommt [deutsches Wort] eigentlich?“

Etymologie ist zwar ein wahnsinnig spannender Bereich, der mich auch stark interessiert, ich wende mich da trotzdem an jemanden aus der Indogermanistik, weil ich diesen Bereich im Studium leider nie hatte. Jetzt mittlerweile beschäftige ich mich damit auch im beruflichen Alltag mehr, zumindest mit der Sprachgeschichte des Deutschen.

„Gibt es eigentlich eine Regel für xy, mit dem man einem Deutschlernenden das beibringen kann?“

Es gibt tatsächlich Regeln, wie für alles in Sprachen, weil Sprachen extrem logisch sind (auch wenn es selten so aussieht). Aber typischerweise liegen die Wurzeln der Regelmäßigkeit mehrere hundert Jahre und verschiedenste Sprachwandel zurück, sodass es einfacher ist, die Deutschlernenden die Unregelmäßigkeiten auswendig lernen zu lassen, als sie mit Lautverschiebungen und morphophonologischen Analysen zu verwirren.

„Ist x korrekt oder y?“

Weder noch, sowohl als auch. Oder: Wenn zwei sich streiten, freuen sich die Linguist*innen. Regiolektale Unterschiede (z.B. „da hat’s ein Kino“ vs. „Da gibt’s ein Kino“) existieren nun mal. Keines davon ist „richtiges“ oder „falsches“ Deutsch. Es gibt keine falsche Sprache oder korrekte Sprache. Es gibt nur gewisse Dinge, die unser Sprachgefühl als akzeptabel ansieht, und andere Dinge, die es als unakzeptabel wahrnimmt. Linguistik ist deskriptiv. Wir können nur sagen, dass etwas „für uns selbst falsch“ oder „für uns selbst richtig“ ist. Euer Sprachgefühl als Muttersprachler*innen sagt euch schon, was richtiges Deutsch ist und was nicht.


Linguistik ist ein facettenreicher Studiengang mit vielen verschiedenen Spezialisierungsmöglichkeiten. Ich persönlich habe meinen Schwerpunkt in der Phonologie-Morphologie-Schnittstelle. Andere wiederum sind hervorragende Syntaktiker*innen, und wiederum andere beschäftigen sich ausschließlich mit Computerlinguistik. Was ein*e Linguist*in nicht weiß, weiß d. Kolleg*in dafür umso besser, und umgekehrt.

So sind wir alle unterschiedlich. Hauptsache, wir machen das, was uns Spaß macht (und hoffentlich auch irgendwie den Lebensunterhalt finanziert).

Und für uns Linguist*innen ist Sprachen auseinanderpflücken einfach das Coolste, was es gibt.

Im Grunde sind wir alle ein wenig verrückt …


Quellen:
Müller, Gereon. „Modul 04-06-1001: Linguistische Grundlagen“. Universität Leipzig: Leipzig. 2012.