Gott und die Welt erschaffen

Neben Sprachen und fremdartig klingenden Namen ist ein weiteres wichtiges Merkmal, das uns davon überzeugt, es mit einer völlig neuen Kultur zu tun haben, deren Religion.

Religion spielt, soweit es mir bekannt ist, eigentlich nur in zwei Subgenres der Fantasy eine Rolle: nämlich der High Fantasy (z.B. Tolkien) und Sci-Fi.

Was diese beiden Subgenres verbindet, ist die Möglichkeit der Inklusion vollkommen neuer Spezies und Völker. Sowohl High Fantasy, als auch Sci-Fi zeichnet sich eigentlich dadurch aus, dass es mindestens ein Volk gibt, was „anders“ ist, als das der Protagonist*innen (und der Leser*innen), meist schon allein daran erkennbar, dass sie eine eigene Sprache haben – und eben eine eigene Religion.

Eine neue Religion erschaffen – muss das denn sein?

Wer eine eigene Kultur erschafft, sollte sich bewusst machen, dass Religion bzw. religiöse Ansichten immer einen großen Teil ausmachen. Selbst die Abwesenheit von Religion sagt eine Menge über ein Volk aus, also ist es sinnvoll, sich da ein paar Gedanken drüber zu machen.

Am Anfang war das Wort …

Zunächst einmal sollten wir vielleicht etablieren, mit was für einer Religion wir es überhaupt zu tun haben. Ist sie monotheistisch wie das Christentum? Polytheistisch wie der Hinduismus? Sind es alles Naturgeister oder gibt es vielleicht sogar gar keine Gottheit? Und wie suche ich die passende Religionsform für meine Kultur heraus?

Auf diese Frage gibt es keine wirkliche Antwort, es ist hängt viel von anderen Details der Geschichte und der Welt ab.
Soll eine Religion entwickelt werden, die stark auf einer existierenden Religion basiert (weil z.B. die Geschichte in einer Region oder einer Zeit angesiedelt ist bzw. das Volk aus einer Region oder Zeit stammt, in der diese Religion praktiziert wird), ist Sensitivity Reading sehr sinnvoll.

Polytheismus besagt, dass es mehr als eine Gottheit gibt. Meist haben die einzelnen Gottheiten unterschiedliche Funktionen, ihre einzelnen Geschichten drücken eine andere Moral aus. Vielleicht besteht das Gottheitenpantheon aber auch aus verschiedenen Darstellungen/Inkarnationen ein und der selben Gottheit, z.B. wenn Wiedergeburt in der Religion eine Rolle spielt. Ich lege nun einfach fest, dass die Zauberer aus meiner Conlanging-Beispielswelt eine polytheistische Religion haben, die Details dieser Religion kommen später.

Monotheismus, der nicht christlich inspiriert ist, ist meiner Erfahrung nach in bekannten Werken seltener anzutreffen. Wie (und ob) die Gottheit dargestellt wird oder sogar in Erscheinung tritt, kann jedoch vielfältig sein.

Atheismus ist in unserer heutigen Gesellschaft zwar kein Fremdwort, aber mir persönlich ist keine Kultur bekannt, die nicht irgendwelche religiösen Wurzeln hat (falls ihr eine solche Kultur kennt, auch in Büchern oder Filmen, lasst es mich gerne wissen). Vor allem im für uns Schreibende so wichtigen Bereich der Sprache sind so viele Idiome religiösen Ursprungs, auch wenn man es eigentlich gar nicht so glauben mag. Denken wir doch nur einmal an Ausdrücke „Oh mein Gott“, „Herrje“, „Ach du heiliger Strohsack“ oder „Himmel, Arsch und Zwirn“, die in einer rein atheistischen Kultur alle wegfallen würden. Stattdessen wird dort vielleicht nur „Ach du Schreck“ oder „liebe Güte“, oder vielleicht auch was komplett Neues gesagt. Ich kenne zum Beispiel keine Kultur, die den eigenen Namen ruft. Also statt „Oh mein Gott“ nur „Oh meine Eleonore“ zum Beispiel. Wär doch mal wirklich was anderes.

Naturmagie ist ebenfalls eine Art Religion, auch wenn vielleicht das klassische Bild eines oder mehrerer allwissender/allmächtiger Gottheiten ausbleibt – stattdessen werden die Erde und allgemein die Natur als heilig angesehen. Möglicherweise tauchen in solchen Naturreligionen auch alle Arten von Naturgeistern auf. Klassische Beispiele sind Dryaden oder Nymphen, aber man kann natürlich auch völlig neue Wesenheiten erschaffen.

Die eigentliche Götterfrage

Nachdem ich mich also für einen Theismus entschieden habe, kann ich mich nun der eigentlichen Frage widmen, die uns alle ja vermutlich am meisten interessiert: Wer sind meine Götter, wie heißen sie, wie sehen sie aus, wofür stehen sie und haben sie irgendwelche besonderen Kräfte?

Bei den Monotheist*innen bediene ich mich dem klassischen Grundgedanken einer allmächtigen Gottheit, die wahrscheinlich auch nur „Gott*Göttin“ heißt oder höchstens noch „Schöpfer*in“, und lege noch fest, ob diese Gottheit eher als gnädig-gütig oder strafend dargestellt wird und ob es da vielleicht regionale oder historische Unterschiede gibt. Wie sie dargestellt wird? Vielleicht als alte Frau, vielleicht in Kindes- oder Tiergestalt, vielleicht hat sie gar kein Geschlecht, oder vielleicht zwanzig Arme, aber keine Beine. Vielleicht hat sie auch überhaupt keine körperliche Form, sondern ist mehr eine Art Bewusstsein, oder vielleicht wird angenommen, dass diese Gottheit die eingeatmete Luft ist. Das dürft ihr jetzt gerne entscheiden.

Nun wirds etwas kniffliger: Was mache ich mit einer Kultur, die polytheistisch ist? Wie viele Gottheiten hat die wohl? Bei kleineren Zahlen von zwei bis zwanzig, kann man sich ja noch zu jede Gottheit einen Namen ausdenken. Bei größeren Zahlen, die ins Unendliche wachsen, wird es schwieriger. Ich lege zunächst einmal fest, dass diese Kultur ein überschaubares System von vielleicht fünf Gottheiten hat. Ob es sich am Ende herausstellt, dass diese Fünf eigentlich nur ihre Hauptgötter sind und es noch zahllose andere gibt, kann ich auch noch später klären.

Zunächst haben wir vielleicht eine Urgottheit, aus der alles andere entstanden ist (damit hätten wir sogar schon die Ansätze eines Schöpfungsmythos!). Diese Urgottheit hat auch erstmal keinen Namen, vielleicht, weil die Kultur zu viel Respekt und Verehrung vor ihr hat, um sie zu benennen. (An dieser Stelle möchte ich nochmal anmerken, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn euer Götterpantheon und überhaupt eure Kultur einige Löcher aufweist und Fragen offen lässt. Zum einen ist in einem normalen Fantasyroman gar nicht genügend Platz, alles unterzubringen, was man sich so ausgedacht hat (für so etwas hat Tolkien die Anhänge geschrieben), zum anderen bedarf es auch keiner vollständigen Historie und Grammatik, um die Kultur zum Leben zu erwecken. Mut zur Lücke!)

Gottheit Nr.2 ist vielleicht eine Schutzgöttin, da die Kultur vielleicht aus Ausgestoßenen besteht oder in der Vergangenheit unter Verfolgungen litt. Also bedeutet ihr Name vielleicht übersetzt soviel wie „die Hüterin“ oder „die Schützende“ und sie wird als ältere Frau dargestellt. Warum alte Frau? Einerseits als Klischeebruch, andererseits aber auch, um einen eher mütterlichen Aspekt zu betonen. „Die Hüterin“ ist zudem immer in Begleitung eines Adlers, der schützend seine Schwingen über die Zauberer ausbreitet. Und schwupps – haben wir unser erstes, heiliges Tier und ein Schutzsymbol, das sich garantiert auf allen möglichen Amuletten und sonstigen Gegenständen wiederfindet.

Gottheit Nr.3 ist vielleicht Gottheit der magischen Schriften und Künste. Eine streng aussehende Person in einem langen, blauen Gewand, deren Name sich zu „Weisheit“ übersetzen lässt. Vielleicht hat die Person außerdem noch eine besondere Rune oder ein anderes Symbol als Brosche oder Tattoo. Also können wir nun annehmen, dass Lehrmeister*innen, v.a. Zauberlehrmeister*innen, mit größter Wahrscheinlichkeit ebenfalls blaue Gewänder tragen und sich das Symbol oder die Rune der „Weisheit“ in vielen Schriftstücken über die Magie und Zauberei, vielleicht auch an Eingängen zu Zauberschulen, befindet.

Gottheit Nr.4 erscheint in der Form eines kleinen Mädchens. Sie wird „die Hoffnung“, manchmal auch „das Licht“ genannt, und von Zauberern in Zeiten der Not, des Elends und der Hilflosigkeit angerufen. Hier haben wir wieder den Aspekt der Verfolgung und der konstanten Angst, unter denen die Zauberer seit Ewigkeiten leiden, aufgegriffen. „Die Hoffnung“ symbolisiert vermutlich auch gleichzeitig die Geburt und das Leben, sowie den Frühling, weshalb sie wahrscheinlich auch bei Geburten angerufen und im Frühling gefeiert wird.

Gottheit Nr.5 tritt in der Gestalt eines weißen Bären auf und steht für den Tod und den Winter und wird „der Erlöser“ genannt. Die Figur eines Totengotts ist für ein Volk, das verfolgt und wegen Hexerei verbrannt wurde oder wird, nicht unlogisch, denn sie kann die Angst nehmen vor dem, was danach kommt. Das Erblicken eines weißen Bären wird demnach vermutlich als Todesomen angesehen und/oder kündigt den Einbruch des Winters an.

Kommen wir nun zu den Naturreligionen und Atheismus. Bei der Naturreligion lege ich einfach fest, dass die Naturgeister als Lichtwesen vorgestellt werden, die in den einzelnen Bäumen, Wäldern, Bergen, Flüssen, etc. leben und nicht zwingend physische Gestalt haben, also muss ich mir kaum Gedanken über das Aussehen der einzelnen Geister machen. Schon habe ich im Grunde eine fertige Religion, die ihre Wurzeln in der Verehrung der Natur hat und für Bäume, Gewässer und Gebirge verschiedenste Naturgeister hat, die über alles wachen.

Die Atheist*innen hingegen müssen unter jeden Umständen Formulierungen vermeiden, die etymologisch religiösen Bezug haben (und davon gibt es mehr als man denkt). Außerdem muss ich klären: Gibt es so etwas wie eine Ehe, wenn Ehe eigentlich ein rein religiöses Konzept ist? Wie werden moralische Grenzen festgelegt? Statt religiösen Texten, sind vielleicht philosophische oder naturwissenschaftliche Texte besonders kulturell wichtig? Und wenn es König*innen gibt, wie wird ihr Status legitimiert? Das sind alles Fragen, über die wir uns Gedanken machen müssen.

Die praktische Religion

Nun steht zwar fest, an wen oder was die einzelnen Völker glauben. Aber wer glaubt überhaupt? Alle? Die Hälfte? Eine Minderheit? Und wo kann man seinem Glauben Ausdruck verleihen? In der Kirche, oder doch lieber Zuhause?

Meine monotheistische Kultur ist so semi-religiös. Zwar glauben die meisten an ihre Gottheit, aber nicht alle. Die religiösen unter ihnen haben ihre Religionsstätten, so wie wir unsere Kirchen, Tempel und Kapellen haben. Es gibt davon große und kleine, man kann dort hingehen und es gibt vermutlich auch eine Art Gottesdienst.

Für meine Polytheist*innen, sowie meine Naturreligion ist Religion hingegen etwas Fundamentales. Alle glauben an diese Religion und sie ist wichtiger Teil des Alltags. Die Naturreligiösen haben überall und nirgends ihre Gebetsstätten (falls sie überhaupt ein Konzept für beten haben), da sie die Natur als Ganzes sehen und damit mehr oder weniger die ganze Natur auch heilig ist. Alles ist heilig. Jede*r ist heilig.
Die Polytheist*innen hingegen haben vielleicht eine*n Schutzpatron*in, den sie sich ab einem bestimmten Alter selbst aussuchen und für den sie einen eigenen Schrein in ihren Häusern haben. Vielleicht tragen sie auch Amulette mit dem Symbol ihrer jeweiligen Gottheit. Oder wer weiß, vielleicht haben sie sogar ein winziges Schreinchen in Handtaschenformat, das sie überall hin mitnehmen …

Religion und Politik

Ein letzter, wichtiger Punkt, den ich zumindest anreißen will, ist, in wiefern beeinflussen sich Staat und Religion gegenseitig? Hat Religion eine staatliche Autorität? Oder wird sie mit allen Mitteln von den Politikern bekämpft? Es kommt hierbei natürlich immer auf die Fantasywelt an, ob überhaupt ein Fokus auf den Staat gelegt wird. Bei Tolkiens Elben scheinen Staat bzw. „Elbentum“ und Religion untrennbar zu sein, zmd. wird sie als selbstverständlich angesehen und ist einfach fester Bestandteil der Kultur. Bei George R.R. Martin wiederum finden wir den Konflikt nicht nur zwischen mehreren Religionen, sondern auch zwischen Religion und Staat, bzw. wie sich die beiden gegenseitig beeinflussen. Ob die politische Ebene eingeführt wird, hängt also ganz von uns und unserer Geschichte ab.


Checkliste für Religionen (Ergänzungsvorschläge willkommen!)

  • Polytheismus/Monotheismus/Atheismus/andere …
  • Name der Religion (optional)
  • Gottheit: gut/gnädig oder böse/bestrafend?
  • Haben die Götter Kontakt mit den Gläubigen?
  • Aussehen/Darstellung der Gottheiten
  • Religion und der Staat: Beeinflusst das eine das andere? Gibt es Konflikte?
  • Wo wird Religion praktiziert? Tempel/Kirche/Zuhause/…
  • Was für ein Symbol steht für die Religion/einzelne Gottheiten?
  • Glaube und Aberglaube: Gibt es bestimmte Omen, die als gut/schlecht gedeutet werden?
  • Wer ist eigentlich religiös?
  • Religiöse Oberhäupter (falls es sie gibt) und ihr Status in der Gesellschaft und im Staat
  • Spezielle Praktiken: Opfergaben/Gottesdienste/Rituale/Gebete/…
  • Idiomatische Ausdrücke, die durch die Religion geprägt wurden: „Ihr Götter“/“Mein Gott“/“Beim Schöpfer“/“Ihr Geister“/“Zur Hölle“/…
  • Wie stehen Religion und Gläubige zu anderen Religionen/Nicht-Gläubigen?

To give credit, where credit is due: Die o.g. Punkte stammen zwar von mir, aber auf den Teil mit Staat und Religion wäre ich in meiner Auflistung nie gekommen, wenn ich nicht während des Schreibens an diesem Beitrag über einen Post von el-norawrites auf Tumblr gestolpert wäre, die ebenfalls eine (englischsprachige) Checkliste mit Fragen erstellt hat, die man beim Erstellen einer neuen Religion beantworten können sollte. Sonstige Ähnlichkeiten zu ihrem Post sind allerdings zufällig und themenbedingt.