Zaubersprüche oder nicht? Das ist hier die Frage. Worte haben zweifelsohne viel Magie. Wir Schreiberlinge wissen das vermutlich am besten. Aber kaum haben wir uns entschieden, Zaubersprüche einzuführen, stehen wir vor dem nächsten Problem:
Wie sollen sich unsere Zaubersprüche anhören?
Somit sind wir also auch bei unserem heutigen Thema:
Wie wird Magie beschworen? - Oder: Eene Meene Abrakadabra
Die wirkungsvollsten Zaubersprüche sind, wie jedes Kind weiß, in einer anderen Sprache. Oder sie reimen sich.
Oder aber es gibt genau eine magische Formel, die für alle Zauber gültig ist.
Schauen wir uns ein paar Beispiele an.
Fallbeispiel 1: Fremdsprache (z.B. Latein):
„Obtrunco!“, schrie Herbert und schwang seinen Zauberstab. Der Fluch traf den Finsteren Fürsten mitten in die Brust und er fiel leblos zu Boden.
Herbert hatte es geschafft. Sie waren alle gerettet.
Aber zu welchem Preis?
Eine Hand tastete nach seiner. Langsam blickte er auf, direkt in Gittas lächelndes Gesicht.
„Ich dachte, ich würde sterben“, sagte er leise und die Erkenntnis, was er getan hatte, schnürte ihm die Kehle zu. „Ich dachte, wir würden alle sterben.“
„Aber das sind wir nicht“, erwiderte sie. Sie strich ihm übers blutige Gesicht. „Hier, lass mich dich …“ Sie zog ihren eigenen Zauberstab hervor. „Emundo“, murmelte sie und Herbert spürte, wie Dreck und Blut und Schweiß sich von seiner Haut lösten und verschwanden.
„Du hast heute gute Arbeit geleistet, Herbert“, sagte Gitta mit einem Gesichtsausdruck, den Herbert nicht deuten konnte. „Aber du musst noch eine Kleinigkeit für mich tun …“
In diesem Beispiel sehen wir lateinische Zaubersprüche. Latein ist wohl die beliebteste Sprache, wenn es um das Erfinden von Zaubersprüchen geht. Ein Grund dafür könnte sein, dass es keine Muttersprachler:innen mehr gibt und die Sprache außerhalb des Vatikans nicht mehr aktiv gesprochen wird. Ein weiterer Grund könnte sein, dass viele Gebete der christlichen Religionen in europäischen Ländern historisch auf Latein gehalten waren und das repetitive Aufsagen eines Textes in einer Sprache, die man nicht versteht, durchaus etwas Mystisches, Magisches haben kann. Insbesondere, wenn dem Gesagten heilende, purifizierende, „magische“ Wirkung zugesprochen wird. (Gab es nicht auch eine historische Figur, die das Essen von Bibelseiten als Heilmittel ansah?) Es gibt viele Umstände, die dafür gesorgt haben, dass Latein diesen Status erlangt hat.
Offene Frage: Was ist mit außereuropäischen magiepraktizierenden Kulturen?
Latein ist die Mutter der romanischen Sprachen (jedenfalls das Vulgärlatein). Das Lateinische weist jedoch gewisse Laute auf, die in einigen nicht-indoeuropäischen Sprachen nicht vorkommen, z.B. /f/ oder /v/. Andersherum haben nicht-indoeuropäische Sprachen eine Reihe von Lauten, die wir Europäer:innen nicht aussprechen können (oder nur mit sehr viel hartem Training).
Wenn wir jetzt also eine spezifische Sprache (in diesem Fall Latein) festlegen, die uns als Grundlage für unsere Zaubersprüche dient, wie sehen dann Zaubersprüche in anderen Sprachen aus?
Eine einzige, universal gültige Sprache festzulegen, ist angesichts der vielen Akzente, Dialekte und einfach generell der Sprachtypologie unmöglich, wenn die Magie keinen Raum für Fehler in der Aussprache zulässt (wie in einer bekannten Kinder- und Jugendbuchreihe).
Wenn wir jetzt also eine spezifische Sprache für unsere Zaubersprüche festlegen, sollten wir uns auch überlegen, wie es in anderen Kulturen und Sprechergruppen aussieht. V.a. in Kulturen, die weitaus älter sind als unsere westliche Zivilisation.
Weitere offene Fragen: Gibt es ein feststehendes Inventar an Zaubersprüchen in der jeweiligen Sprache, oder werden die Zauberspruchsprachen gelehrt, sodass potentiell neue Zaubersprüche entstehen können? Wie genau entstehen neue Zaubersprüche und wer erfindet sie? Wie regional/international sind einzelne Zauber? Gibt es Importe aus anderen Zaubersprachen und welchen (Aussprache-)Regeln folgen sie?
Fallbeispiel 2: Reime
„Elendes Getier, hinfort mit dir!“, schrie Herbert und schwang seinen Zauberstab. Der Fluch traf den Finsteren Fürsten mitten in die Brust und er fiel leblos zu Boden.
Herbert hatte es geschafft. Sie waren alle gerettet.
Aber zu welchem Preis?
Eine Hand tastete nach seiner. Langsam blickte er auf, direkt in Gittas lächelndes Gesicht.
„Ich dachte, ich würde sterben“, sagte er leise und die Erkenntnis, was er getan hatte, schnürte ihm die Kehle zu. „Ich dachte, wir würden alle sterben.“
„Aber das sind wir nicht“, erwiderte sie. Sie strich ihm übers blutige Gesicht. „Hier, lass mich dich …“ Sie zog ihren eigenen Zauberstab hervor. „Glasklar und rein, soll deine Haut nun wieder sein“, murmelte sie und Herbert spürte, wie Dreck und Blut und Schweiß sich von seiner Haut lösten und verschwanden.
„Du hast heute gute Arbeit geleistet, Herbert“, sagte Gitta mit einem Gesichtsausdruck, den Herbert nicht deuten konnte. „Aber du musst noch eine Kleinigkeit für mich tun …“
Hier verwenden unsere Magier:innen Reime in der eigenen Sprache, um Magie zu wirken. Es ist also klar, dass jede Sprache unterschiedliche Zaubersprüche hat. An und für sich ganz praktisch, da wir uns nicht mit Latein herumplagen müssen – aber es kann schnell passieren, dass die Zielgruppe bei dieser Art von Zaubersprüchen um ein, zwei Jahrzehnte jünger wird.
Offene Frage: Was unterscheidet ein normales Kindergedicht von einem Zauberspuch?
Wir könnten jetzt natürlich als Plottwist festlegen, dass Kinderreime nichts weiter sind als komplizierte und längere Zaubersprüche – und daraus kann ziemlich schnell eine Horrorgeschichte entstehen (vielleicht also doch nicht so jung, unsere Zielgruppe?). Aber vielleicht sind alle Zaubersprüche ohne die Verwendung eines Zauberstabs (oder Artefakts) nichts weiter als wirkungslose, mehr oder weniger schlechte Reime? So könnte z.B. in Zauberschulen das Zaubersprucherfinden völlig unbedenklich beigebracht werden …
Weitere offene Fragen: Gibt es Reimschema, die wirkungsvoller sind als andere? Spielt Metrum eine Rolle? Gibt es feststehende Zauberreime, oder können diese frei erfunden werden? Wie steht es mit Sprachen, die keine Stabreime haben, sondern beispielsweise Alliterationen als Reimschema betrachten? Nicht alle Sprachen/Definieren Gedichte/Poesie über Reime (z.B. Latein, Japanisch, …) – wie wird dort Magie gewirkt? Können fremdsprachliche Zaubersprüche trotzdem verwendet werden, z.B. Englisch? Gibt es Prestigesprachen, die soziale Gruppen voneinander unterscheiden (vergleichbar mit Französisch als Adelssprache in der frühen Neuzeit, Englisch u.a. in der Modewelt im 21. Jahrhundert, Kiezdeutsch)? Können Zaubersprüche übersetzt werden, oder verändert ein übersetzter Zauberspruch seine Wirkung ein wenig (so wie Übersetzungen auch nicht immer eins zu eins sind)?
Fallbeispiel 3: Festgelegte Zauberformel
„Abrakadabra, du bist tot!“, schrie Herbert und schwang seinen Zauberstab. Der Fluch traf den Finsteren Fürsten mitten in die Brust und er fiel leblos zu Boden.
Herbert hatte es geschafft. Sie waren alle gerettet.
Aber zu welchem Preis?
Eine Hand tastete nach seiner. Langsam blickte er auf, direkt in Gittas lächelndes Gesicht.
„Ich dachte, ich würde sterben“, sagte er leise und die Erkenntnis, was er getan hatte, schnürte ihm die Kehle zu. „Ich dachte, wir würden alle sterben.“
„Aber das sind wir nicht“, erwiderte sie. Sie strich ihm übers blutige Gesicht. „Hier, lass mich dich …“ Sie zog ihren eigenen Zauberstab hervor. „Abrakadabra, du seist wieder sauber“, murmelte sie und Herbert spürte, wie Dreck und Blut und Schweiß sich von seiner Haut lösten und verschwanden.
„Du hast heute gute Arbeit geleistet, Herbert“, sagte Gitta mit einem Gesichtsausdruck, den Herbert nicht deuten konnte. „Aber du musst noch eine Kleinigkeit für mich tun …“
In diesem Fall haben wir es mit genau einer einzigen magischen Formel zu tun, die den nachfolgenden Worten Wirkung verleiht. Natürlich kann es auch sein, dass die Formel nachgestellt wird, wie Bibi Blocksbergs „Hex-hex!“ (auch wenn das „Eene Meene“ und der Reim vermutlich auch eine Rolle spielen), oder aber nur die Formel allein steht, ohne dass wir vorher oder hinterher sagen, was wir eigentlich bewirken wollen.
Offene Frage: Wie kann die Zauberformel wissen, was wir zaubern wollen?
Wenn wir der Zauberformel etwas vor- oder etwas nachstellen, mag es ja noch ganz logisch erscheinen, dass die Magie weiß, was Teil des Zaubers ist und was nicht. Aber was ist mit Zaubersprüchen, die immer nur „Abrakadabra“ lauten und mehr nicht? Entweder muss die zaubernde Person sich ganz stark konzentrieren – oder es kommt öfter zu Fehlzaubern, weil die Absicht hinter dem „Abrakadabra“ unklar war.
Allerdings sind auch vor- und nachgestellte Aussagen, wie unser „Abrakadabra, du seist wieder sauber“ nicht unbedingt ganz eindeutig. Angenommen, Gitta hätte keine Pause gelassen: „Abrakadabra, du seist wieder sauber, und du hast heute gute Arbeit geleistet“ – was wäre dann?
Wir könnten jetzt festlegen, dass es mindestens fünf Sekunden Pause braucht, bevor weitergesprochen werden kann, oder die Zauberformel sieht das noch als Teil des Zaubers an (könnte interessante Folgen haben und bestimmt schon den ein oder anderen heftigen Unfall verursacht haben). Oder aber wir sagen, dass die Intention hinter dem Zauberspruch wichtiger ist als die eigentlichen Worte. Das wäre besonders praktisch. Dann gäbe es jedenfalls keine Person mehr, die sich herausreden könnte mit „Ich habs doch nicht so gemeint“ …
Weitere offene Fragen: Gibt es irgendwelche Regeln, die solcherart gebildeten Zaubersprüche befolgen müssen (z.B. maximale Satzlänge/Wortanzahl)? Was für ein magisches Wort gibt es in anderen Sprachen? Wie wichtig ist korrekte Betonung und was ist in diesem Fall mit regionalsprachlichen Färbungen? Können neue Zauberformeln entwickelt werden? Welche Voraussetzungen muss ein Wort/eine Formel erfüllen, um zu einer Zauberformel zu werden?
Jede Art von Zauberspruch hat Vor- und Nachteile und bringt eine Reihe offener Fragen mit sich, die vielleicht nicht explizit geklärt werden, worüber wir jedoch zumindest einmal nachgedacht haben sollten. Wir wären so auch in der Lage, viel mehr diverse Charaktere in unserer Geschichte auftreten zu lassen und damit auch magiepraktizierende Gemeinschaften nicht-indoeuropäischer Kulturen kennenzulernen. Diversity matters! Vor allem in der Fantasy.
Magie ist nicht nur etwas für Hörende (und andere nicht-behinderte Personengruppen)
Eine weitere, sehr sehr wichtige Frage, die ich bisher in noch keinem Buch gefunden habe, in dem es um Magier, Hexen und Zauberer ging, die Zaubersprüche anwenden:
Was ist mit Gehörlosen, Schwerhörigen, oder stummen Menschen?
Wie funktionieren gebärdete/nicht-lautsprachliche Zaubersprüche? Sind Gehörlose vielleicht Meister in zauberspruchloser Magie? Oder haben sie bestimmte Gebärden entwickelt, die vielleicht sogar mächtiger sind als lautsprachliche Zaubersprüche?
Natürlich können wir hingehen und sagen, dass in unserer Welt voller Magie körperliche Behinderungen nicht existieren. Die Magie ist in der Lage, alles zu „heilen“ (bis auf den Tod und eventuell einige magische Krankheiten). Hurra. Ein Gewinn für alle behinderten Menschen weltweit. Nicht.
Ganz abgesehen davon, dass ein solcher Weltenbau ethisch mehr als fragwürdig ist – das bedeutet aber auch im Umkehrschluss, dass es keine magischen Leute mit Brillen geben dürfte. Und brillentragende Magier:innen in Film, Fernsehen und Fiktion sind jetzt keine Seltenheit. Ebenso das Trope vom blinden Magier. All das wäre hinfällig, wenn wir sagen würden, dass Magie alles „heilen“ kann.
Also: Wenn es Leute mit Sehschwächen gibt, dann gibt es auch gehörlose und schwerhörige Personen. Personen im Rollstuhl, mit Tourette-Syndrom, etc.
Sich Gedanken darüber zu machen, wie nicht-behinderte und behinderte Menschen unterschiedlich Magie nutzen, schadet der Geschichte also keinesfalls.
Und wer weiß, vielleicht schreibt jemand von euch ja irgendwann eine Geschichte, in der die Hauptperson ein gehörloses, magisches Familienmitglied hat, jemand im Freundeskreis oder sie selbst gehörlos ist. Vielleicht kommt noch eine Magierin mit Tourette-Syndrom vor, eine Person nutzt ihren Rollstuhl auch als Flugobjekt und wieder eine weitere Person hat selektiven Mutismus und wechselt zwischen oralen und gebärdeten Zaubersprüchen hin und her.
Lesen würde ich diese Geschichte sofort!
Über die Autorin
Hi, ich bin Eleonore. Ich habe Linguistik studiert und liebe Sprachen. Seit 2022 biete ich Conlanging-Seminare für Autor*innen und alle Kreativen an, die selber eine eigene Sprache entwickeln wollen, und poste hier und auf Instagram Worldbuilding-Tipps, sprachliche Funfacts und vieles mehr rund um Sprachen, Kunst, und Kunstsprachen.